Die Minimal Flow Anästhesie ist eine Variante der Narkoseführung mit halbgeschlossenem Rückatemsystem, bei der der Frischgasfluß auf 0.5 l/min vermindert ist. Je niedriger der Frischgasfluß ist, desto größer ist der Rückatem- und desto geringer ist der aus dem Atemsystem abströmende Überschußgasanteil. Mit der Verminderung des Überschußgasanteiles nimmt der Auswascheffekt ab: Fremdgase, die entweder vom Patienten in das Atemsystem hinein ausgeatmet, mit dem Frischgas in das Atemsystem eingespeist, oder aber durch Reaktion der Narkosegase mit dem Atemkalk im Atemsystem selbst entstehen können, werden nicht zusammen mit dem Überschußgas aus dem System ausgespült, sondern können im Atemsystem akkumulieren. Die Tendenz zur Akkumulation der Fremdgase ist um so größer, je niedriger der Frischgasfluß ist, und sie erreicht ihr Maximum bei der Narkose mit geschlossenem System, da hier gar kein Überschußgas mehr aus dem Atemsystem abgeleitet wird.
Im Zusammenhang mit dem vorgegebenen Thema geht es hier um gasförmige Substanzen, die durch Reaktion der Narkosegase mit dem Atemkalk entstehen. Schon sehr frühzeitig wurde das Problem erkannt, und Kuhn setzte 1906 das von ihm entwickelte Rück-atemsystem deshalb nicht in der Klinik ein, weil er Sorge hatte, daß das hochalkalische Material aus der Kalipatrone, die zum Zwecke der Kohlendioxidabsorbtion in den Atemgasstrom eingeschaltet war, mit dem Chloroform reagieren, und die entstehenden Reaktionsprodukte für die Patienten schädlich sein könnten. Kuhn hat intuitiv sehr richtig gehandelt, reagiert doch Chloroform mit Alkalimetallhydroxiden unter Bildung von Phosgen, das als Nervenkampfgas im ersten Weltkrieg eingesetzt wurde.
Alle Inhalationsanästhetika können mit dem klassischen
Atemkalk
, dem Natriumhydroxidkalk, unter Absorption oder Degradation reagieren,
wobei die Reagibilität der Kohlendioxidabsorbentien mit
abnehmender
Feuchte zunimmt. Natriumhydroxidkalk enthält nämlich
außer
75-85% Kalziumhydroxid, sowie 1-4% Natrium- und 1-4% Kaliumhydroxid
noch
14-18% Wasser, welches für den Ablauf der Absorbtionsreaktion
erforderlich
ist. Die Beimischung von Alkalimetallhydroxiden hingegen dient dem
Start
und der Beschleunigung der Absorptionsreaktion vor allem auch bei
niedriger
Temperatur des Atemkalks.
Reaktionen der Inhalationsanästhetika mit trockenem Atemkalk
Inhalationsanästhetika, die in ihrem molekularen Aufbau durch eine Difluoromethoxy-Gruppe charakterisiert sind, reagieren mit völlig trockenem Atemkalk unter Bildung von Kohlenmonoxid. Die Reagibilität nimmt dabei vom Desfluran über das Enfluran zum Isofluran hin ab. Schon bei geringem Feuchtegehalt des Atemkalks nimmt die Kohlenmonoxidbildung drastisch ab, und bei einem Wassergehalt von nur 4,8% ist diese Reaktion völlig unterbunden. Es wurden einzelne Fälle akzidenteller Kohlenmonoxidvergiftungen beobachtet, in einem Einzelfall sogar ein Anstieg der Kohlenmonoxidkonzentration auf 36%, was nach der Klassifizierung von Pankow einer subakuten Kohlenmonoxidvergiftung entspricht. Alle Fälle akzidentell erhöhter COHb-Konzentration traten während Narkosen mit hohem Frischgasfluß auf. Die Kohlenmonoxidbildung hängt also entscheidend von Feuchtegehalt des Atemkalks, nicht aber von Frischgasfluß ab. Ganz im Gegenteil, auch bei langdauernden Nakosen mit sehr niedrigem Frischgasfluß wird nur eine unbedeutende Erhöhung der Kohlenmonoxidhämoglobin-Konzentration beobachtet, wobei die während Durchführung von Niedigflußnarkosen gemessenen Werte noch deutlich unter den COHb-Werten liegen, die vor Einleitung der Narkose ermittelt werden.
Halothan, und weitaus heftiger wiederum das rein fluorsubstituierte
Sevofluran reagieren mit ausgetrocknetem Kalk unter völliger
Destruktion
des Narkosemittels, wobei neben zahlreichen noch nicht identifizierten
flüchtigen Substanzen Haloalkene, Methanol und Formaldehyd
entstehen
können. Es sind mehrere Einzelfälle beschrieben, bei denen es
während akzidenteller Applikation von Sevofluran über
ausgetrockneten
Atemkalk zu klinisch relevanter Irritation der Atemwege oder gar
Störungen
der Gasaustauschfunktion der Lungen gekommen ist. Deshalb sind alle
Maßnahmen
zu ergreifen, mit denen eine akzidentelle Austrocknung des Atemkalkes
mit
größtmöglicher Sicherheit verhindert werden kann:
Der Atemkalk ist in regelmäßigen Zeitabständen,
zumindest
nach Wochenfrist zu wechseln. Das Befülldatum ist auf einem
Pflastersteifen
auf dem Absorberkanister zu vermerken. Nie dürfen Atemsysteme
während
arbeitsfreier Zeitintervalle durch einen konstanten Frischgasstrom oder
durch Einschalten des Ventilators bei geöffnetem Y-Stück
trockengefahren
werden. Wird ein Narkosegerät nicht täglich genutzt, so
sollte
der mit Atemkalk befüllte Absorberkanister aus dem Atemsystem
herausgenommen
und mit passenden Kappen verschlossen werden. Bei solchen
Nakosegeräten
aber, die über Wochenfrist oder länger ungenutzt bleiben,
sollte
der Absorberkanister unbefüllt belassen und nur im Falle des
Gebrauchs
mit Kalk aus einen bereitstehenden verschlossenen Originalgebinde
gefüllt
werden. In der Praxis hat es sich bewährt, solche unbefüllten
Kanister mit einer deutlich erkennbaren roten Markierung zu versehen.
Reaktionen der Inhalationsanästhetika mit normal feuchtem Atemkalk
Halothan und Sevofluran reagieren aber auch mit normal feuchtem Natriumkalk, wobei Haloalkene gebildet werden. Wiederum ist die Reagibilität des rein fluorsubstituierten Anästhetikums Sevofluran deutlich höher als die von Halothan. Letzteres bildet mit Natriumkalk 2-Bromo-2-Chloro-1,1-Difluoro-Ethylen (BCDFE) während Sevofluran unter Bildung verschiedener flüchtiger Compounds reagiert, von denen aber nur Compound A (Fluoro-methyl-1-Trifluoromethyl-2,2-Difluorovinylether) in klinisch relevanter Menge gebildet wird. Im Tierversuch mit Ratten wirkt Compound A nephrotoxisch, wobei - trotz des jahrelang anhaltenden wissenschaftlichen Disputs - die entscheidende Frage immer nicht beantwortet ist, ob diese Befunde sich in gleicher Weise auch auf den Menschen übertragen lassen. Währen eine Gruppe von Wissenschaftlern meint belegen zu können, daß eine Belastung mit Compound A in der Größenordnung von 150 - 240 ppmh schon zu ersten Anzeichen von Nierenfunktionsstörungen auch beim Menschen führt , hält eine andere Wissenschaftlergruppe nach klinischen Beobachtungen diese Werte für nicht relevant und erst Compound A Belastungen von mehr als 800 ppmh für potentiell nephrotoxisch beim Menschen
Die Bildung von Compound A im Atemsystem hängt von der
Sevoflurankonzentration,
vom Feuchtegehalt, der Zusammensetzung und der Temperatur des Atemkalks
und vom Frischgasfluß ab. Letzterer nimmt insofern Einfluß,
als mit der Verminderung des Flows der Rückatemanteil, somit die
Kohlendioxidbelastung
und die Temperatur des Atemkalks zunehmen. Desweiteren ist bei
abnehmendem
Überschußgasanteil der Spüleffekt vermindert, so
daß
Compound A im Atemsystem vermehrt akkumulieren kann. Während bei
einem
Frischgasfluß von 1 l/min, wie er bei Durchführung von Low
Flow
Anästhesien zur Anwendung kommt, die mittlere Maximalkonzentration
von Compound A Werte von 25 ppm kaum überschreitet, wurden bei
Durchführung
von Minimal Flow Anästhesien mit Frischgasflows von 0.5 l/min
Compound
A Spitzenkonzentrationen von bis zu 60 ppm gemessen. Wird aber die
Nephrotoxizitätsgrenze
der Belastung mit Compound A von 150 - 240 ppmh zu Grunde gelegt, dann
kann eine solche Belastung schon bei Minimal Flow Anästhesien von
einer Dauer von 2 bis 3 Stunden erreicht werden. Während die
Durchführung
von Low Flow Anästhesien heute als sicher angesehen wird, bleiben
Zweifel gerechtfertigt, ob die Compound A Belastungen während der
Durchführung von Niedrigflußnarkosen mit noch niedrigeren
Frischgasflows
- Minimal Flow Anästhesien und Narkosen mit geschlossenem System -
nicht doch zu Störungen der Nierenfunktion bei den Patienten
führen
können.
Sichere Minimal Flow Anästhesie mit alternativen Kohlendioxidabsorbentien
Nach aktuellem Wissensstand ist die Beimischung von
Akalimetallhydroxiden
verantwortlich für die chemischen Reaktionen der
Inhalationsanästhetika
mit den Kohlendioxidabsor-bentien. Schon der Verzicht auf die
Zumischung
von Kaliumhydroxid schien zu einer erheblichen Verminderung der
Reagibilität
des Atemkalks - zumindest des ausgetrockneten Atemkalks - zu
führen
, so daß seit etwa einem Jahr ausschließlich
kaliumhydroxidfreie
Natriumkalke in Deutschland vertrieben werden. Allerdings wird auch bei
Einsatz dieser Absorbentien weiterhin eine nennenswerte Compound A
Bildung
beobachtet. Erst bei Verzicht auf jedwede Zumischung von
Alkalimetallhydroxiden
– also auch auf die Beimischung von Natriumhydroxid - wird die
chemische
Reaktion zwischen Anästhetika und den Kohlendioxidabsorbentien
völlig
unterbunden. Seit kurzem sind alkalimetallhydroxidfreie Absorbentien
für
den klinischen Einsatz verfügbar: Amsorb (Armstrong Medical) und
Superia
(Molecular Products). Diese Kalziumhydoxidkalk genannten Absorbentien
scheinen
überhaupt nicht mehr mit den Inhalationsanästhetika zu
reagieren,
weder bei normalem Feuchtegehalt, noch in ausgetrocknetem Zustand.
Kalziumhydroxidkalke
enthalten im Wesentlichen Kalziumhydroxid und Wasser sowie geringe
Gewichtsanteile
anderer Additive: Amsorb, zum Beispiel, enthält zusätzlich
geringe
Mengen von Kalziumsulfat und -chlorid sowie Zeolite. Die
Absorptionskapazität
beträgt 2/3 der Absorptionskapazität des kaliumhydroxidfreien
Natriumkalks, was dem Anspruch der klinischen Praxis vollauf
genügt.
Die etwas, aber nicht wesentlich höheren Kosten sind
vernachlässigbar,
werden sie in Relation zur Zunahme der Sicherheit für die
Patienten
gesehen - was gleichermaßen für die Hoch- als auch für
die Niedrigflussnarkose gilt. Wird Sevofluran routinemäßig
und
bei längerdauernden Minimal Flow Narkosen eingesetzt, so sollte
ausschließlich
Kalziumhydroxidkalk als Kohlendioxidabsorbens eingesetzt werden.
Zusammenfassung
Chemische Reaktionen zwischen den Inhalationsanästhetika und
den
Kohlendioxidabsorbentien sind bei der Durchführung von
Niedrigflußnarkosen
nur dann von Bedeutung, wenn die chemische Umsetzung kontinuierlich und
langsam erfolgt, und flüchtige Reaktionsprodukte bei Reduktion des
Frischgasflows als Fremdgase im Atemsystem akkumulieren können.
Die
heftigen chemischen Reaktionen der Inhalationsanästhetika mit
ausgetrocknetem
Atemkalk führen hingegen zu einer schlagartigen starken
Anreicherung
flüchtiger Reaktionsprodukte im Atemsystem schon während der
Einleitungsphase von Inhalationsnarkosen, während der in aller
Regel
gerade mit hohem Frischgasfluß gearbeitet wird. Ein
akzidentelles
Austrocknen des Atemkalks ist nur durch den gewissenhaften Umgang mit
diesem
Material, nicht aber durch den Verzicht auf eine adäquate Nutzung
der Rückatmung zu verhindern! In diesem Kontext muß die
konsequente Durchführung von Niedrigflußnarkosen gerade zu
den
Maßnahmen gezählt werden, mit denen ein akzidentelles
Austrocknen
des Atemkalks verhindert wird. Von den kontinuierlich ablaufenden
Reaktionen
der Anästhetika mit normal feuchtem Atemkalk ist nur die
Akkumulation
von Compound A während der Durchführung von Minimal Flow
Narkosen
und Narkosen mit geschlossenem System klinisch relevant. Durch den
Einsatz
von Kalziumhydroxidkalk ließe sich - nach aktuellem Wissensstand
- sowohl die Gefahr, die von akzidenteller Austrocknung der
Kohlendioxidabsobentien
ausgeht, als auch die Gefahr der Compound A Akkumulation bei Minimal
Flow
Narkosen mit Sevofluran völlig ausschalten.
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