Theorie und Praxis der Low- und Minimal Flow Anästhesie

sowie der Narkose mit geschlossenem System

 

Jan A. Baum

St. Elisabeth-Stift, Damme

 

                   

 

1.  Aufnahme von Narkosegasen

 

1.1  Sauerstoff

Der Sauerstoffverbrauch unter Narkosebedingungen liegt in der Größenordnung des Grundumsatzes und kann im zeitlichen Ablauf einer Narkose bei unveränderten Kreislaufverhältnissen als annähernd konstant angenommen werden. Näherungsweise kann der Sauerstoffverbrauch mit der  Brody- Formel kalkuliert werden:

 

VO2 = 10 ×  KG [kg]3/4     [ml/min].

 

 

1.2  Lachgas

Unter der Annahme einer konstanten inspiratorischen Lachgaskonzentration von etwa 60% folgt die Aufnahme von Lachgas einer Exponentialfunktion. Initial ist sie hoch und nimmt bei zunehmender Sättigung der Körpergewebe und des Blutes und der daraus resultierenden Verminderung der alveolo- kapillären Partialdruckdifferenz ab. Für einen erwachsenen Patienten kann die Lachgasaufnahme mit der Severinghaus- Formel eingeschätzt werden:

 

VN2O = 1000 × t -½   [ml/min].

 

 

1.3  Inhalationsanästhetika

Da die Aufnahme der Inhalationsanästhetika - ebenso wie die von Lachgas - durch die jeweilige alveolo-kapilläre Partialdruckdifferenz bestimmt wird, folgt auch sie einer Exponentialfunktionscharakteristik. Sie kann näherungsweise mit der Lowe-Formel bestimmt werden:

 

VAN = f × MAC × lB/G × Q × t -½   [ml/min].

 

f x MAC: angestrebte exspiratorische Narkosemittelkonzentration des Anästhetikums als Fraktion f der minimalen alveolären Konzentration

Q:  Herzminutenvolumen [dl/min]

 

Abb.1: Gesamtgasuptake: Summe von Sauerstoff-, Lachgas- und Narkosemittelaufnahme

 

 2  Differente Verfahren der Niedrigflußnarkose

 

Als Niedrigflußnarkosen gelten Narkosen über ein Rückatemsystem, bei welchen zumindest 50% der Ausatemluft nach CO2-Absorption in der folgenden Inspirationsphase dem Patienten erneut zugeleitet werden.

 

 

Niedrigflußnarkosen sind nicht mehr als spezielle Varianten der Narkoseführung mit

Rückatemsystemen: das inspiratorisch dem Patienten zugeleitete Narkosegas besteht aus einem großen Rückatmungs- und einem geringen Frischgasanteil. Die Aufnahme und Verteilung der Inhalationsanästhetika aber wird - gleichermaßen wie bei jeder anderen Form der Inhalationsnarkose - einzig und allein von den an der alveolo-kapillären Membran und in den Organen herrschenden Partialdruckdifferenzen bestimmt.

 

Werden Rückatemsysteme der neueren Generation bei Narkosen an erwachsenen Patienten eingesetzt, so nimmt bei einer Verminderung des Frischgasflows auf 1-2  L/min der Rückatemanteil auf etwa 50% zu. Obwohl der Frischgasfluß natürlich stufenlos auf jeden Wert bis hinunter auf das Gasvolumen vermindert werden kann,

 

 

Abb. 2: Rückatmungsfraktion in Abhängigkeit vom Frischgasflow

 

das der Patient aufnimmt, soll die Einteilung der verschiedenen Varianten der Niedrigflußnarkose an Hand der in der Literatur vorgegebenen Nomenklatur vorgenommen werden.

 

 

2.1  Low Flow Anästhesie

Verminderung des Frischgasflows auf 1,0 l/min nach einer 10 Minuten dauernden Initialphase mit hohem Frischgasfluß.

 

2.2  Minimal Flow Anästhesie

Verminderung des Frischgasflows auf 0,5 l/min nach einer 15 Minuten dauernden Initialphase mit hohem Frischgasfluß.

 

Low und Minimal Flow Anästhesie sind Extremvarianten der Narkoseführung mit halbgeschlossenem Rückatemsystem: trotz weitestgehender Anpassung des Frischgasflows an den Gesamtgasuptake wird auf Standardeinstellungen der Frischgaszusammensetzung und ein, wenn auch minimales Überschußgasvolumen nicht verzichtet.  

 

 

2.3  Narkosen mit geschlossenem System

Bei der Narkoseführung mit geschlossenem Rückatemsystem hingegen wird auf die Nutzung eines Überschußgasanteils verzichtet. Das Frischgasvolumen entspricht dem Gasvolumen, das der Patient zum jeweiligen Zeitpunkt der Narkose aufnimmt. Da die Gesamt-Gasaufnahme einer Exponentialfunktionscharakteristik folgt, erfordert dieses Verfahren häufige Korrekturen an der Gasdosiereinrichtung.

 

 

Nicht-quantitative Narkose mit geschlossenem System   

Nach einer etwa 10 Minuten dauernden Initialphase mit hohem Frischgasfluß wird der Frischgasflow und die Frischgaszusammensetzung intermittierend der Gesamt- Gasaufnahme des Patienten - entsprechend der Formeln von Brody, Severinghaus und Lowe  - angepasst.

 

Quantitative Narkose mit geschlossenem System

Nach kurzdauernder Einwaschphase mit hohem Frischgasfluß werden Frischgasvolumen und Frischgaszusammensetzung kontinuierlich dem jeweiligen Verbrauch von Sauerstoff und Lachgas und der individuellen Aufnahme des Inhalationsanästhetikums so angepasst, daß die Gaszusammensetzung im Narkosesystem entsprechend den vorgegebenen Konzentrations-Sollwerten konstant gehalten wird.

 

Abb. 3: Niedrigflussnarkosen: Approximierung des Frischgasflows an den Uptake

 

 

3  Praxis der Niedrigflussnarkosen

 

Ein grundsätzlicher Hinweis muß den folgenden Ausführungen vorangestellt werden: Bei allen Angaben über die Dosierung von Inhalationsanästhetika handelt es sich um klinisch bewährte Orientierungswerte für Narkosen an erwachsenen Patienten mit mittlerem Körpergewicht. Selbstverständlich ist die Dosierung der volatilen Anästhetika aber im konkreten Einzelfall der individuellen Reaktionslage des Patienten und den operativen Erfordernissen anzupassen.  

 

3.1  Die Initialphase

 

Die Prämedikation kann, unabhängig von der Wahl des Frischgasflows, dem gewohnten Regime entsprechen.

 

Die Einleitung einer Niedrigflußnarkose entspricht ebenfalls dem gewohnten Schema: Nach Präoxigenierung, Injektion eines Hypnotikums und gegebenenfalls Muskelrelaxation wird ein Tubus oder eine Kehlkopfmaske eingelegt. Der Patient wird an das Rückatemsystem angeschlossen.

 

Nach Anschluß des Patienten an das Narkosesystem wird in einer Initialphase ein hoher Frischgasflow am Gerät eingestellt. Während dieser Initialphase soll eine suffiziente Denitrogenisierung erreicht, die Narkosegase in der gewünschten Zusammensetzung in das gesamte System eingewaschen, und die Narkose adäquat rasch vertieft werden. Das hohe Überschußgasvolumen gewährleiset desweiteren während der initialen Phase mit hoher Gesamtgasaufnahme eine ausreichende Gasfüllung des Narkosesystems, wodurch Volumenimbalancen vermieden werden. Die Dauer der Initialphase wird vom Maß der Flowreduktion und vom individuellen Gesamtgasuptake bestimmt.

 

Bei einem Frischgasfluß zwischen 4 bis 5 l/min (Frischgaszusammensetzung: 1,4 L/min O22, 3,0 L/min N2O) ist die Denitrogenisierung in etwa 6 bis 8 Minuten abgeschlossen. Nach etwa 10 Minuten erreichen die Sauerstoff- und die Lachgaskonzentration Werte von etwa 30 % O222 und knapp 65 % N2O. Wird beim Gebrauch von Isofluran der Verdampfer auf 1.5 %, von Enfluran und Sevofluran auf 2.5 % und von Desfluran auf 4 bis 6 % eingestellt, so wird nach 10 bis 15 Minuten bei einem erwachsenen Patienten mittleren Körpergewichts eine exspiratorische Konzentration erreicht, die in der Größenordnung von 0.8 x MAC des jeweiligen Inhalationsanästhetikums liegt. Dieser Wert entspricht bei einer additiven Lachgaskonzentration von 50 bis 60 % etwa der AD95, der Narkosemittelkonzentration, bei der 95% der Patienten den Hautschnitt ohne Abwehrreaktion tolerieren.

 

 

3.2  Flowreduktion

 

Nach 10 Minuten beträgt die Gesamtgasaufnahme eines erwachsenen Patienten etwa 600 ml/min, sodaß zu diesem Zeitpunkt der Flow auf 1.0 l/min vermindert werden und mit der Durchführung einer Low-Flow Anästhesie begonnen werden kann.

 

Mit der Flowreduktion nimmt das Rückatmungsvolumen und damit der Anteil sauerstoffverarmter Ausatemluft im Narkosegas drastisch zu. Eine inspiratorische Sauerstoffkonzentration von 30 % kann nur dann aufrechterhalten werden, wenn zum Zeitpunkt der Flowreduktion die Sauerstoffkonzentration im Frischgas auf 50 %, zumindest aber auf 40 % gesteigert wird.

 

Mit der Flowreduktion nimmt weiterhin auch die Narkosemittelmenge ab, die von dem in den Frischgasstrom eingeschalteten Verdampfer in das System abgegeben wird. Deshalb muß, soll die während der Initialphase erreichte Anästhetikakonzentration von 0.8 x MAC aufrecht erhalten werden, mit der Verminderung des Flows die Verdampfereinstellung auf folgende Werte erhöht werden: bei Gebrauch von Isofluran auf 2.0 %, von Enfluran und Sevofluran auf 3.0 %, während bei Einsatz von Desfluran die Verdampfereinstellung unverändert belasen werden kann.

 

Vor Reduktion des Frischgasflows auf einen noch niedrigeren Wert - auf 0.5 l/min bei der Durchführung von Minimal Flow Narkosen - sollte die Dauer der Initialphase 15, bei sehr kräftigen Patienten sogar 20 Minuten betragen. Wird der Flow zu früh reduziert, so reicht gegebenenfalls das Frischgasvolumen nicht dazu aus, den Gasverlust über die Gesamtgasaufnahme und etwaige Leckagen zu ersetzen, was zu einer Verminderung des zirkulierenden Gasvolumens führt. 

 

Da im Vergleich zur Low Flow Narkose der Rückatemanteil noch weiter zunimmt, muß die Sauerstoffkonzentration des Frischgases sogar auf 60 %, zumindest aber auf 50 % gesteigert werden.

 

Eine exspiratorische Anästhetikakonzentration von etwa 0.8 x MAC ist nur dann aufrecht zu erhalten, wenn bei Flowreduktion die Frischgaskonzentration von Isofluran auf 2.5 %, von Enfluran und Sevofluran auf 3.5 % gesteigert, und bei Einsatz von Desfluran um 1 % gegenüber dem Initialwert erhöht wird.  

 

 

3.3  Charakteristika der Niedrigflussnarkosen

 

Bei einer Narkose mit hohem Frischgasfluß wird nur ein geringer Teil der Ausatemluft wirklich zurückgeatmet, der größte Teil der Ausatemluft jedoch als Überschußgas aus dem Narkosesystem abgeleitet. Die Zusammensetzung der Gase im Narkosesystem entspricht im wesentlichen der des Frischgases und verändert sich bei unveränderter Frischgaszusammensetzung im zeitlichen Ablauf einer Narkose kaum.

 

Bei einer Niedrigflußnarkose hingegen wird die Zusammensetzung des Narkosegases wegen des hohen Rückatemanteils entscheidend von der Zusammensetzung der Ausatemluft bestimmt, also durch die jeweilige Aufnahme von Sauerstoff, Lachgas und Narkosemittel. Der Uptake dieser Gase aber verändert sich im zeitlichen Ablauf einer Narkose. Die Narkosegaszusammensetzung verändert sich deshalb im zeitlichen Ablauf einer Low- oder Minimal Flow Anästhesie kontinuierlich. 

 

Bei konstanter Frischgaszusammensetzung nimmt die inspiratorische Sauerstoffkonzentration mit der Verminderung des Frischgasflows ab.

 

Je geringer der Flow ist, desto höher muß die Sauerstoffkonzentration im Frischgas sein, damit eine ausreichende inspiratorische Sauerstoffkonzentration gewährleistet ist.

 

Dabei hängt die Sauerstoffkonzentration, die sich im System einstellt, in hohem Grade vom individuellen Sauerstoffverbrauch ab. Bei kräftigen Patienten mit hohem Sauerstoffverbrauch liegt die im System gemessene Sauerstoffkonzentration im Mittel deutlich niedriger, als bei der Narkose von zarten Patienten mit geringer Muskelmasse.

 

Bei Durchführung von Niedrigflußnarkosen muß die Frischgaszusammensetzung dem individuellen Sauerstoffverbrauch angepasst werden.   

 

In den ersten 30 bis 45 Minuten nach Flowreduktion wird eine Zunahme der FIO22 beobachtet. Während dieser Zeit ist die Lachgasaufnahme noch vergleichsweise hoch. Da sie aber kontinuierlich abnimmt, akkumuliert Lachgas in der Folgezeit im System, und die inspiratorische Sauerstoffkonzentration nimmt langsam aber fortlaufend ab. Wenn die Sauerstoffkonzentration auf 30 % abgefallen ist, sollte der O2-2Flow um 10 % des Gesamtfrischgasflows erhöht, und der N2O-Flow um denselben Betrag vermindert werden.

 

Bei Durchführung von Niedrigflußnarkosen verändert sich die Zusammensetzung des Narkosegases im zeitlichen Ablauf der Narkose kontinuierlich, sodaß intermittierend Korrekturen der Frischgaszusammensetzung erforderlich sind.

 

Bei konstanter Verdampfereinstellung ist die mit dem Frischgasstrom in das Narkosesystem eingespeiste Menge an volatilen Anästhetika umso geringer, je niedriger der Frischgasflow ist. Die Differenz zwischen der Narkosemittelkonzentration im Frisch- und im Narkosegas nimmt umso mehr zu, je niedriger der Frischgasfluß ist.

 

Bei der Durchführung von Niedrigflußnarkosen muß die Frischgaskonzentration des Inhalationsanästhetikums - in Abhängigkeit von der Löslichkeit des Inhalationsanästhetikums - auf einen deutlich höheren als den angestrebten Sollwert der Konzentration im Narkosegas eingestellt werden. Die Konzentrationsdifferenz ist dabei umso größer, je niedriger der Frischgasfluß, und je höher die Löslichkeit des Anästhetikums ist.

 

Ein weiteres spezifisches Charakteristikum der Niedrigflußnarkosen ist die große zeitliche Latenz, mit der Veränderungen der Anästhetikakonzentration im Frischgas zu entsprechenden Veränderungen der Narkomittelkonzentration im Atemsystem führen. Die Geschwindigkeit von Ein- und Auswaschprozessen kann mit der Zeitkonstante eines Systems beschrieben werden. Entsprechend der von Conway angegebenen Formel

 

T = VS / (VF - VU)

 

ist die Zeitkonstante T proportional zum Systemvolumen VS (Geräte-und Lungenvolumen), und - bei konstantem Uptake VU - umgekehrt proportional zur Narkosemittelmenge ist, die zu gleicher Zeit in das System eingespeist wird.

 

Bei der Durchführung von Niedrigflußnarkosen führen Veränderungen der Frischgaszusammensetzung nur mit erheblicher zeitlicher Verzögerung zu entsprechenden Veränderungen der Gaszusammensetzung im Atemsystem. Die verlängerten Zeitkonstanten sind bei der Steuerung von Niedrigflußnarkosen zu berücksichtigen.

 

 

3.4  Niedrigflußnarkosen mit Sevofluran und Desfluran

 

Sevofluran und Desfluran sind im Vergleich zu den konventionellen Inhalationsanästhetika durch geringe Blutlöslichkeit und anästhetische Potenz gekennzeichnet. Ein- und Auswaschvorgänge nehmen nur kurze Zeit in Anspruch, wodurch die Initialphase verkürzt wird. Desweiteren ist die Differenz zwischen der Frischgas- und der Narkosemittelkonzentration im Atemsystem geringer, als bei Einsatz der konventionellen Inhalationsanästhetika mit höherer Löslichkeit. Wegen der geringeren anästhetischen Potenz beider Anästhetika ist die Maximalabgabe der substanzspezifischen Verdampfer höher als üblich ausgelegt, sie beträgt für Sevofluran 8 %, für Desfluran sogar 18 %. Wird von der maximalen Abgabeleistung Gebrauch gemacht, so kann auch bei Beibehalt niedriger Frischgasflows die in das Atemsystem eingespeiste Narkosemittelmenge erheblich gesteigert werden. Da gleichzeitig aber der individuelle Uptake niedrig ist, sind bei Einsatz dieser Anästhetika - auch bei Niedrigflußnarkosen - die Zeitkonstanten vergleichweise kurz.

 

Wegen ihrer spezifischen pharmakologischen und pharmakodynamischen Eigenschaften sind Sevofluran und Desfluran besonders für die Durchführung von Niedrigflußnarkosen besonders geeignet.

 

Zum Anderen ist jedoch bei hohem Frischgasfluß die Effektivität von Inhalationsnarkosen mit diesen Anästhetika extrem gering ist, da einerseits wegen der geringen anästhetischen Potenz eine vergleichsweise hohe Narkosemittelkonzentration im gesamten Atemsystem und den Lungen etabliert und aufrechterhalten werden muß, andererseits aber wegen der niedrigen Löslichkeit nur besonders geringe Mengen des Inhalationsanästhetikums wirklich vom Patienten aufgenommen werden. Bei hohem Frischgasfluß ist das Verhältnis der Narkosemittelmenge, die wirklich vom Patienten aufgenommen wird (VU), zur Narkosemittelmenge, die in das System eingespeist werden muß, um die hohe Anästhetikakonzentration im Atemsystem zu gewährleisten (VD), besonders ungünstig. Die Effektivität des Anästhesieverfahrens, die sich nach Ernst mit dem dem Effektivitätsquotienten (KEff) beschreiben läßt,

 

KEff = VU / VD

 

ist extrem gering und liegt bei längerdauernden Desflurannarkosen mit hohem Frischgasfluß bei Werten unter 0.1, d.h. nicht einmal 10 % der Narkosemittelmenge, die in das Atemsystem eingeleitet werden müssen, werden  vom Patienten aufgenommen, mehr als 90% gehen mit dem Überschußgas verloren.

 

Der Einsatz von Sevofluran - und umsomehr von Desfluran - ist deshalb unter den Aspekten einer wirtschaftlichen Behandlungsführung aber auch der Minimierung der Umweltbelastung nur mit Niedrigflußverfahren zu rechtfertigen.

 

 

Wie alle Inhalationsanästhetika reagieren auch diese beiden, rein fluorsubstituierten Inhalationsanästhetika der neuen Generation mit dem Atemkalk: Sevofluran unter Bildung der Degradationsprodukte Compound A-E, Desfluran unter Bildung von Kohlenmonoxid.

 

Desfluran reagiert allerdings nur mit völlig ausgetrockentem Atemkalk, schon bei einem Wassergehalt des bei uns gebräuchlichen Natriumkalkes von nur 4.8 % wird keinerlei Kohlenmonoxidbildung mehr beobachtet. Auch bei langdauernden Narkosen mit sehr niedrigem Frischgasfluß ist der Anstieg der Kohlenmonoxid-Hämoglobinkonzentration so gering, daß er klinisch völlig unbedeutend ist.

 

Sevofluran hingegen reagiert auch schon mit normal feuchtem Atemkalk. Während von der Gruppe um Eger und Weiskopf eine Compound A - Belastung zwischen 150 - 200 ppmh bereits als nephrotoxisch angesehen wird, konnte Mazze in einer kürzlich präsentierten Untersuchung belegen, daß erste Anzeichen von Nephrotoxizität bei Primaten erst bei einer Compound A-Belastung von 8oo ppmh auftreten. In neueren klinischen Untersuchungen konnte gezeigt werden, daß während langdauernder Narkosen mit geschlossenem System selbst nach Compound A - Belastungen bis 478 ppmh bei keinem der Patienten eine Störung der Nierenfunktion zu beobachten war. Eine Limitierung des Frischgasflows auf minimal 1,0 L/min oder irgendwelche Begrenzungen der Dauer von Niedrigflußnarkosen erscheinen nach heutigem Wissensstand nicht mehr gerechtfertigt. Diese Aussage gilt gleichermaßen für den Einsatz von Kalziumhydroxid und kaliumhydroxidfreiem Natriumkalk. Alle Varianten der Niedrigflußnarkose mit Sevofluran können ohne jedwede Einschränkung bezüglich Maß und Dauer der Frischgasflowreduktion durchgeführt werden.

 

Zumindest bei Einsatz kaliumhydroxidfreier Natriumkalke ist allerdings streng darauf zu achten, daß der Atemkalk regelmäßig in kontrollierten Zeitabständen gewechselt wird und alle Maßnahmen ergriffen werden, ein akzidentelles Austrocknen des Atemkalkes sicher zu vermeiden.

 

 

3.5  Niedrigflussnarkosen ohne Lachgas

 

Der routinemäßige Einsatz von Lachgas als Bestandteil des Trägergases bei Durchführung von Inhalationssanästhesien wird heute übereinstimmend in entsprechenden Übersichtsartikeln Frage gestellt, vielmehr wird der indizierte Einsatz dieses Gases empfohlen. Während auf eine Vielzahl von Kontraindikationen hingeweisen wird, bleiben alle Übersichtsarbeiten eine präzise Definition der Indikationen zum Einsatz von Lachgas schuldig. In der klinischen Praxis erweist sich die Durchführung von Inhalationsnarkosen ohne Lachgas als überaus unproblematisch: Der fehlende analgetische Effekt des Lachgases ist durch moderate Erhöhung der additiv gegebenen Opioiddosis, der fehlende hypnotische Effekt durch Steigerung der Konzentration der Inhalationsanästhetika um nur 0.2 bis 0.25% des MAC-Wertes des jeweiligen Narkosemittels zu kompensieren. So wird bei Einsatz von Isofluran eine exspiratorische Konzntration von 1.2%, bei Sevofluran von 2.2% und bei Einsatz von Desfluran von 5.0% angestrebt.

 

Der Verzicht auf den Einsatz von Lachgas erleichtert darüberhinaus die Durchführung von Niedrigflußnarkosen erheblich. Da nur noch Sauerstoff und das Inhalationsanästhetikum vom Patienten aufgenommen werden, nimmt der Gesamtgasuptake merklich ab. Eine Denitrogenisierung des Systems ist nicht mehr erforderlich. Die Initialphase der Niedrigflußnarkosen, während der mit einem hohen Frischgasfluß gearbeitet werden muß, kann deshalb vergleichsweise kurz gehalten werden. Ihre Dauer wird nur mehr durch die Einwaschcharakteristik des Inhalationsanästhetikums bestimmt. Durch den Fortfall der Lachgasaufnahme ist das Narkosesystem nach Verminderung des Frischgasflows - auch wenn mit einem Frischgasfluß von nur 0,5 l/min gearbeitet wird - deutlich besser gefüllt als bei den Niedrigflußnarkosen, die mit einem Sauertoff-Lachgas-Trägergasgemisch durchgeführt werden. Bei Einsatz von Narkosegeräten, die mit hochdichten Kompaktatemsytemen ausgerüstet sind, ist sogar die Durchführung Nakosen mit geschlossenem System möglich, wobei der Frischgasfluß auf das Sauerstoffvolumen reduziert werden kann, das vom Patienten aufgenommen wird. Dies läßt sich mit der Brody-Formel einschätzen und beträgt bei einem normgewichtigen erwachsenen Patienten etwa 250 ml/min. Bei so niedrigem Frischgasfluß wird aber die Grenze der Abgabeleistung der in den Frischgasstrom eingeschalteten konventionellen Verdampfer erreicht, die in der Regel auf einen Wert 3-5 x MAC des jeweiligen Anästhetikums begrenzt ist. So ist es kaum möglich, nach Flowreduktion auf 0.25 l/min eine exspiratorische Isoflurankonzentration von 1.2% aufrecht zu erhalten. Die neuen Inhalationsanästhetika geringer Löslichkeit, Sevofluran und Desfluran, sind für den Einsatz bei Frischgasflows in der Größenordnung des Sauerstoffverbrauches deutlich besser geeignet.

 

3.6  Indikationen und Kontraindikationen für die Durchführung von Niedrigflussnarkosen

 

Bei den verschiedenen Varianten der Niedrigflußnarkose handelt es sich nicht um eigenständige Narkoseverfahren, sondern nur um adäquate Techniken zur Nutzung von Rückatemsystemen. Wann immer eine Inhalationsnarkose indiziert ist, und ein Narkosegerät mit Rückatemsystem eingesetzt wird, sollte der Frischgasflow so vermindert werden, daß die unsinnige Emission von überschüssigen Narkosegasen den technischen Gegebenheiten entsprechend auf ein Minimum reduziert wird. Spezielle am operativen Eingriff oder an Vorerkrankungen des Patienten orientierte Indikationen für diese Verfahren können somit nicht formuliert werden.

 

Kurzdauernde Maskennarkosen und Verfahren mit unzureichender Abdichtung der Atemwege, etwa Bronchoskopien mit starrem Bronchoskop, erfordern die Einstellung hoher Frischgasflows.

 

Als absolute Kontraindikationen für die Durchführung von Niedrigflußnarkosen gelten: unzureichenden technischen Voraussetzungen, wie mangelnde Dichtigkeit der Atemsysteme und Narkosebeatmungsgeräte oder Fehlfunktion des obligatorischen Monitorings, akute Rauch- oder Gasvergiftungen und das Auftreten einer Malignen Hyperthermie.

 

Relative Kontraindikationen für die Durchführung von Minimal Flow Narkosen und Narkosen mit geschlossenem System ergeben sich aus einer möglichen Akkumulation von Fremdgasen, die mit dem Maß der Flowreduktion zunimmt. Dies betrifft vor allem Gase mit hoher Fett- und Wasserlöslichkeit, wie Alkohol und Aceton, oder für Gase mit hoher Gewebsaffinität, wie Kohlenmonoxid.

 

Wenn die Abatmung von Alkohol bei der Narkose eines betrunkenen Patienten nicht behindert werden soll, so sollte ein Frischgasfluß von zumindest 1 l/min eingestellt werden, wodurch wird ein ausreichender kontinuierlicher Auswascheffekt erzielt wird.

 

Bei einer Narkosen an einem ketoazidotisch entgleisten Diabetiker oder bei Narkosen an chronischen Alkoholikern kann es zu relevantem Anstieg der Acetonkonzentration im Blut kommen. Auch in diesen Fällen sollte mit einem Frischgasflow von zumindest 1.0 l/min gearbeitet werden, wodurch eine unerwünschte Akkumulation von Aceton im Atemsystem verhindert werden kann.

 

Die Akkumulation von Kohlenmonoxid im Atemsystem ist in der Regel nicht von klinischer Bedeutung. Die Carboxihämoglobinkonzentration im Blut nimmt auch bei langdauernden Narkosen mit niedrigstem Frischgasfluß nur unbedeutend zu. Nur bei besonders gefährdeten Patienten mit Anämie, Raucheranamnese und zusätzlich klinisch relevanten regionalen oder generalisierten Durchblutungsstörungen und gleichzeitigem Erfordernis zur Massentransfusion sollte zumindest ein Frischgasflow von 1 l/min am Gerät eingestellt werden. 

 

Wann immer mit einer relevanten Akkumulation von Fremdgas und eventueller Gefährdung der Patienten gerechnet werden muß, sollte der Low Flow Anästhesie gegenüber den anderen Niedrigflußverfahren der Vorzug gegeben werden. Durch den vergleichsweise großen Überschußgasanteil wird ein ausreichender Auswascheffekt gewährleistet.  

 

 

 

WEITERFÜHRENDE LITERATUR

 

 

Aldrete JA, Lowe HJ, Virtue RW eds. (1979) Low Flow and Closed System Anesthesia. Grune & Stratton, New York

 

Lowe HJ, Ernst EA (1981) The Quantitative Practice of Anesthesia. Use of Closed Circuit. Williams & Wilkins, Baltimore

 

Baum J (1998) Die Inhalationsnarkose mit niedrigem Frischgasfluß. 3. neubearbeitete und erweiterte Auflage. Georg Thieme, Stuttgart

 

Baum J, Sievert B, Stanke HG, Brauer K, Sachs G (2000)

Lachgasfreie Niedrigflussnarkosen. Anaesthesiol Reanimat 25: 60-67

 

Baum J (2000) Low Flow Anästhesie. CD-ROM zur Ausbildung in den Verfahren der Niedrigflußnarkose. Pabst Science Publishers, Lengerich

 

 

COMPUTERPROGRAMME ZUR SIMULATION VON NIEDRIGFLUßNARKOSEN

 

White DC, Lockwood L (1989) Narkup (Vers. 4.10). Dr. G.S. Lockwood, Hammersmith Hospital, DuCane Rd., London

 

Philip JA (1991) Gas Man. Med Man Simulations, P.O. Box 67- 160, Chestnut Hill, MA 02167, USA

 

 

Informations- und Lehrmaterial zum Thema Niedrigflußnarkosen

 

Pharmacia & Upjohn (1998) Die Alternative: Low-Flow-Anästhesie mit Desfluran. Videofilm. Pharmacia & Upjohn GmbH, Am Wolfsmantel 56, 91058 Erlangen

 

Dräger Medizintechnik (1998) Low Flow Anaesthesia with Dräger Machines. Questions and Answers. By J. Baum. Drägerwerk Medizintechnik GmbH, Moislinger Allee 53-55, 23542 Lübeck

 

Adis International Inc. (1998) Low-flow Anaesthesia and the Role of Sevoflurane. A Contemporary Clinical Perspective. Guest Editorial by E. J. Frink and E. D. Kharasch. Abbott GmbH, Max-Planck-Ring 2, 65205 Wiesbaden

 

Ohmeda (1996) Low-Flow-Anästhesie. Diaserie. Ohmeda GmbH, Langemarckplatz 3, 91054 Erlangen

 

 

Anschrift des Verfassers:

 

Prof. Dr. J. Baum

Abteilung für Anästhesie und Intensivmedizin

Krankenhaus St. Elisabeth-Stift

Lindenstraße 3-7

D-49401 Damme

Homepage: http://home.t-online.de/home/j.baum.damme

 

Manuskript, rev. Fassung v. Jan. 2004